DIE HEIDEN VON KUMMEROW auf Antenne Brandenburg und im Neuen Deutschland

Gunnar Decker 23.06.2017 / Kultur Neues Deutschland

Exil für Dickköpfe

80 Jahre »Die Heiden von Kummerow« als Spektakel in Biesenbrow


Brandenburg gilt als Theaternotstandsgebiet. In Biesenbrow weist derzeit nichts darauf hin: Das halbe Dorf spielt mit bei Ehm Welks Klassiker. Foto: theater 89

Das wahre Kummerow heißt Biesenbrow! Versteht man das heute noch? Ehm Welk war einmal ein Bestsellerautor, aber was ist er heute, schon vergessen? Nicht ganz, so sagte sich Hans-Joachim Frank, der einst mit seinem legendären »theater 89« Autoren wie Ralf-Günter Krolkiewicz oder Oliver Bukowski zur Uraufführung brachte.
Vor einigen Jahren kehrte er Berlin den Rücken und zog in die Uckermark. Zum einen, weil er fand, fast dreißig Jahre in dunklen Theaterräumen seien genug, zum anderen, weil die Landschaft seiner Kindheit ihn anzog. Außerdem war Berlins Mitte für ein kleines Theater zu einem allzu teuren Immobilien-Pflaster geworden.
Im Alter erwacht die Kindheit neu, das musste – und wollte! – auch Frank erleben und macht nun unter freiem Himmel Theater, eine Mischung aus Spektakel und Event, bevorzugt mit Stoffen, in denen es um Kindheit und jene einfachen Wünsche geht, die wir dann später oft vergessen. Vor einigen Jahren inszenierte er »Der kleine Prinz« für Brandenburg, in dem die Theaterlandkarte bekanntlich viele weiße Flecken hat.
Nun also das Kummerow-Projekt für Biesenbrow. Da trifft es sich gut, dass das Dorf, das ein präzises Gedächtnis für seine Geschichte besitzt und 2003 nur gegen großen Widerstand der Dorfbevölkerung (echte Kummerower eben!) der Stadt Angermünde eingemeindet wurde, sich nun daran erinnert, dass es 725 Jahre alt wird, Angermünde hin oder her.
Gelegenheit dafür, den gesamten Roman zu spielen. Dieses Jahr die ersten acht Kapitel, in den nächsten beiden Jahren die weiteren. Das halbe Dorf spielt mit bei diesem einen Termin – 250 Karten sind verkauft, mehr geht beim besten Willen nicht.
Warum spielt man eine so aufwendige Inszenierung nur ein einziges Mal? Es war teuer, sagt Frank und auch, dass sie, wenn sie Glück haben, mit einer Null in der Bilanz wieder herauskommen. Ob sie die Finanzierung für die nächsten beiden Jahre hinbekommen, und ob dann auch der erste Teil noch einmal gezeigt werden kann, das hängt davon ab, inwieweit sich Land und Kommune daran beteiligen. Brandenburg ist nun mal immer noch ein Theaternotstandsgebiet, und am Willen, daran etwas zu ändern, mangelt es vielen Politikern. Die Nachfrage des Publikums jedenfalls ist da: Teil I der »Heiden von Kummerow« war sofort ausverkauft.
Was könnte man sehen, wäre man dabei? Einen Tag im Leben des Martin Grambauer (alias Ehm Welk), das sind in meiner Ausgabe immerhin die ersten 158 Seiten – der ganze Roman umfasst den Zeitraum eines halben Jahres. Morgens um 10 Uhr geht es in Biesenbrow los und dauert dann zwölf (!) Stunden bis abends um 22 Uhr. Früher gab es in Biesenbrow zwei und unweit in Schönermark eine dritte Bahnstation – heute keine einzige mehr. Biesenbrow liegt buchstäblich hinter allen Bergen, so abgelegen wie seit über hundert Jahren nicht mehr. Das zum Thema des in Biesenbrow schon zu jener Zeit umkämpften Fortschritts, als Ehm (eigentlich Emil) Welk hier Kind war, also im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts.
Schauspieler und Anwohner stellen gemeinsam die verschiedenen im Roman vorkommenden Szenen nach, der Text ist vorher im Studio eingesprochen worden und wird über eine Tonanlage eingespielt. Der Tross der Zuschauer bewegt sich dann von Station zu Station. Zwischendurch ist Zeit zum Essen, Trinken und sogar Schlafen, wie es heißt – das Leben auf dem Dorfe live!
Der Tag beginnt für Martin Grambauer mit einer Unannehmlichkeit: Mutter Harms will sterben, und er ist der Laufbursche mit der Botschaft, aber ein Bote, der sich nicht gern schicken lässt. Besonders unangenehm ist das aber für Pastor Breithaupt, zu dessen Berufspflichten es gehört, die Gemeindemitglieder geistlich bei Ankunft wie bei Verlassen dieser Welt zu begleiten. Allerdings, der Pastor ist auch nur ein Landmann und ackert lieber, als dass er predigt. So stöhnt er: »Ausgerechnet bei solch herrlichem Pflugwetter musste Mutter Harms sterben.« Aber er kennt seine Kummerower, lauter Dickköpfe, die doch nicht machen, was man ihnen sagt, schon gar nicht, wenn es von der Kanzel kommt: »Bloß der Ärger mit den Heiden von Kummerow, tranken und spielten und tanzten und setzten uneheliche Kinder in die Welt, die Kirche war immer halb leer, mit den Abgaben knickerten sie und stänkerten, und ans Seelenheil dachten sie immer zuletzt. «Sein beharrlichster Kritiker ist jedoch Gottlieb Grambauer, Martins Vater, der weiß, so ein Pfaffe redet immer anders, als er handelt.
Und so schaut das ganze Dorf diesem Zweikampf der beiden ausgeprägten Charaktere zu. Wenn der Pfarrer über die Pharisäer redet, die dem Herrn Übles nachreden, so ist allen Zuhörern klar, damit kann nur Gottlieb Grambauer gemeint sein.
Umgekehrt schaut das ganze Dorf fasziniert zu, wie Grambauer ein selbst verfasstes Puppenspiel im Gasthof aufführt, mit einem Kaspar, der ein verdrehter Heiliger ist und auffallende Ähnlichkeit mit Pastor Breithaupt besitzt. Es scheint fast: Damals war einiges mehr los an Grundsatzdebatte auf dem Dorf als heute. Hans-Joachim Frank könnte das mit seiner Marathon-Aufführung ändern. Jedenfalls dann, wenn diesem ersten Teil der »Heiden von Kummerow« wie geplant die beiden anderen Teile folgen.
Es lohnt sich in jedem Falle, Welks »Heiden von Kummerow« wieder zu lesen. Als ein Dokument zivilen Ungehorsams auf der Grenze zur Feier der Anarchie! Mit welch hintergründigem Witz Welk sich seiner Kindheit erinnert; ein Kontrast zu der Zeit, als er dieses Buch – vor achtzig Jahren – schreibt, wie er nicht größer sein könnte. Denn die ersten Notizen zu »Die Heiden von Kummerow« macht er 1934 auf dem Weg ins KZ Oranienburg, wohin er auf Anordnung von Propagandaminister Joseph Goebbels gebracht wird, weil er in der in Berlin erscheinenden »Grünen Post«, deren Star-Autor er bis eben war, einen Leitartikel unter der Überschrift »Auf ein Wort, Herr Reichsminister!« veröffentlicht hatte: eine NS-Ideologiekritik mit ironischsten Untertönen. Die Folge ist das Verbot der »Grünen Post« und Ehm Welks Verhaftung. Eine Machtdemonstration.
Aus dem KZ wird er nach kurzer Zeit entlassen, bekommt jedoch als Journalist Schreibverbot und überlegt, wie er das überleben könnte. Schreibend? Das Publikationsverbot bezieht sich nicht auf unpolitische Bücher – und also, warum nicht jene Notizen über die Biesenbrower Kindheit zu einem Dorf-Buch der anderen Art machen, einem, das so gar nicht zur Blut-und-Boden-Verklärung der Nazis passt? Dass daraus ein Welterfolg werden würde, ahnt er nicht.
Also schafft er, in die innere Emigration versunken, eine Gegenwelt, die sich aus der Erinnerung speist. Ein Idyll ist Biesenbrow/Kummerow keineswegs, aber ein lebenswerter Ort inmitten der Natur. Schule, Gasthof, Kirche und ein fruchtbarer Acker, das prägte die Dorfwelt.
Aber beileibe nicht alle glaubten dasselbe! Die »Heiden« im Dorf stritten pausenlos, und trotzdem – oder gerade deshalb? – lebte man recht friedlich miteinander. Was für eine Botschaft im Jahre 1937 – und heute?

Und dies war auf Antenne Brandenburg über „DIE HEIDEN VON KUMMEROWzu hören: